NPD-Demonstration:
Kein schabbat schalom in Berlin

von Ulrich Peter, Mitglied der Bund der Religiösen Sozialistinnen und Sozialisten Deutschlands e.V. (BRSD)
Ursprünglich in CuS, Heft #4/01veröffentlichte.

Losungstext der Brüdergemeine zum 1. 12. 2001: ‘Die Israeliten sprachen zum Herrn: Wir haben gesündigt, mache du es mit uns, wie dirs gefällt; nur errette uns heute!’ (Richter 10,15).

Im 28. November wurde, nach zweijähriger Überarbeitung, die Ausstellung ‘Verbrechen der Wehrmacht - Dimension des Vernichtungskrieges’ von Jan-Phillip Reemtsma und dem Hamburger Institut für Sozialforschung in den Kunst-Werken in der Berliner Auguststraße wiedereröffnet.

Am Samstag, dem 1. Dezember 2001 kam es in Berlin zur bundesweiten Demonstration der NPD und anderer Nazi-Gruppen gegen die Wehrmachtsausstellung. Parallel dazu schoss die Berliner Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas auf jüdische (und nichtjüdische) DemonstrantInnen, die auf die Straße gegangen waren, um Berlins wichtigste Synagoge vor dieser faschistischen Demonstration zu schützen. Angekündigt war der Marsch der NPD durch das Scheunenviertel und die Spandauer Vorstadt in der Nähe des Alexanderplatzes und die Nazis wollten dabei auch an der Synagoge in der Oranienburger Straße vorbei marschieren. Die Auguststraße, in der die Wehrmachtsausstellung gezeigt wird, ist eine Querstraße der Oranienburger. Angekündigt war die größte faschistische Demonstration in Berlin seit der Zerschlagung des Faschismus und tatsächlich kamen auch etwa 3000 NPD-Anhänger.

Das Scheunenviertel war bis zum Holocaust das Zentrum des jüdischen Berlins, einer Stadt mit 170.000 Juden, mit Hunderten von jüdischen Gemeinden und Institutionen und mit Vertretern aller religiösen und politischen Richtungen des Judentums. 1925 lebte etwa ein Drittel der deutschen Juden in Berlin. Während die bürgerlichen Juden in den westlichen Stadtbezirken Charlottenburg, Tiergarten, Wilmersdorf und Schöneberg lebten, konzentrierte sich das jüdische Proletariat vor allem im Bezirk Mitte. Das Scheunenviertel nordwestlich des Alexanderplatzes beherbergte vor allem ostjüdische Zuwanderer aus Polen. Diese ‘Ost-Juden’ waren das bevorzugte Feindbild der Rechtsradikalen aller Couleur. Von der Theorie zur Praxis war es nur ein kleiner Schritt.

Nachdem am 5. und 6. November 1923 die Berliner Faschisten im vor allem von den sog. Ost-Juden bewohnten Berliner Scheunenviertel randaliert hatten (der erste Berliner Pogrom in der Weimarer Republik!), führten am 20. 11. 1923 mehrere Berliner Organisationen im Scheunenviertel eine Protestkundgebung durch, die von einigen Tausend Menschen besucht wurde. 1 Hauptredner waren der spätere Vorsitzende der DDR-CDU Otto Nuschke und der Kreuzberger Pfarrer und führende religiöse Sozialist Hans Francke.

Diese Vor-Geschichte machten viele demokratische Berlinerinnen und Berliner hochsensibel für die symbolische Bedeutung eines Nazi-Aufmarsches an dieser Stelle. Da der ‘Aufstand der Zuständigen’ auch in Berlin nicht zu verspüren ist, war Bürgerprotest von Nöten. Neben den üblichen Antifa-Gruppen forderte ein Bündnis liberaler und linker Personen und Verbände zum Protest auf. Ihr Aufruf machte die Stoßrichtung deutlich.

Besonders bemerkenswert waren Initiativen aus der jüdischen Gemeinde, deren Centrum judaicum und die Hauptsynagoge in der Oranienburger Straße liegen. Die NPD hatte eine Demo-Route beantragt, die an der Synagoge vorbeiführen sollte. Polizei und Senat von Berlin hatten dies nicht dementiert, so dass nicht nur die Berliner Medien davon ausgingen. In der jüdischen Gemeinde führte dies zu bemerkenswerten Veränderungen. Führende VertreterInnen der Repräsentantenversammlung (Gemeindeleitung) forderten zum zivilen Ungehorsam auf und zum symbolischen Sitzstreik vor der Synagoge, um dadurch die NPD-Demonstration zu stoppen. Zu Protestaktionen rief ebenfalls die Bezirksversammlung Mitte, dem Stadtparlament anderer Länder vergleichbar, auf. Und dies mit den Stimmen von SPD, CDU, FDP, Grünen und PDS.

In Leipzig und einigen anderen Stätten war es Zehntausenden empörten Bürgerinnen und Bürgern tatsächlich gelungen, durch derartige Aktionsformen die Polizei zur vorzeitigen Beendigung faschistischer Aufmärsche zu veranlassen und den Faschos schmerzhafte Niederlagen zu bereiten. Würde dies in Berlin ebenfalls gelingen?

Als ich am Vormittag des 1.12. mit der S-Bahn zur Synagoge unterwegs war und im Bahnhof Friedrichstraße umsteigen wollte, war dies nicht möglich. Bundesgrenzschutz hatte den Bahnhof übernommen, Umsteigen war untersagt und der Zugang zur U-Bahn abgesperrt. Die einzigen Leute, die passierten, trugen Bomberjacken, Springerstiefel und Glatze. Einer der größten Bahnhöfe Berlins war Tummelplatz von Nazis! Als die S-Bahn weiterfuhr konnte ich vom Fenster aus auf der Weidendammer Brücke die angetretenen Marschblöcke der NPD mit ihren schwarz-weiß-roten Fahnen sehen. Es war deprimierend, dass es mehrere Tausend waren. Als ich über Umwege Richtung Wehrmachtsausstellung ging, war in der Oranienburger Straße Schluss.

Dass ich entgegen meiner Absicht nicht zur Wehrmachtsausstellung in der Auguststr. gelangte, lag nicht an mir. Dieter Pienkny vom DGB-Landesbezirk Berlin-Brandenburg wurde in der ‘Jungen Welt’ vom 4.12. zutreffend mit folgendem Satz zitiert: ‘Viele Berliner wurden von der Polizei daran gehindert, auch nur in die Nähe des Gebäudes der Wehrmachtausstellung zu gelangen.’ In meinem Fall machte mir ein Polizist mit Berliner Bär am Ärmel unmissverständlich klar, dass die Straße gesperrt sei. ‘Sie lasse ich hier nicht durch!’ Auf meine Frage, wie ich denn jetzt zur Auguststraße gelangen könne, gab es keine Antwort. Aber die Körpersprache war eindeutig: Ich bin der Staat und Sie kommen hier nicht durch! Alles war hermetisch abgesperrt. Ein Irrsinn! Staatliche Organ rufen zum Protest in der Auguststraße auf und andere staatliche Organe verhindern, dass man daran teilnehmen kann. Im Ergebnis gab es einen Schlauch in der Oranienburgerstraße. Keiner kam mehr raus und keiner mehr rein.

Es war etwa gegen 12 Uhr, als die Oranienburger Straße von der Polizei abgesperrt worden war, so dass kein Durchkommen mehr zur Auguststraße möglich war. Es befanden sich etwa 3000 Menschen vor den Absperrungen, allerdings in dem Bewusstsein dort nicht falsch zu sein. Es ging ja auch um den Schutz der Synagoge und man vermutete immer noch, dass die Nazis durch die Oranienburger Straße ziehen würden. Die Gegendemonstration war geprägt durch ihr äußerst unterschiedliches Erscheinungsbild. Junge AntifaschistInnen und Autonome, GewerkschafterInnen, evangelische Pfarrer und Rabbiner, vor allem aber viele Menschen, die mit Sicherheit nicht die Auseinandersetzung mit der Polizei suchten. Gegen 13 Uhr nahm die Polizei das Zerren an den Absperrungen durch einige junge AntifaschistInnen zum Anlass, mit Wasserwerfern, Schlagstöcken und Tränengas die Demonstration zurückzudrängen.

Dies bekam ich nur aus zweiter Reihe mit., denn ich war mittlerweile die Oranienburger Straße zurückgegangen. Vor der Synagoge traf ich dann einen mir bekannten evangelischen Pfarrer (denjenigen, der auf fast allen Fotos ist) und einen befreundeten jüdischen Berufschullehrer und blieb bei ihnen. Vor uns war die Straße frei von Demonstranten, die eigentliche Demonstration stand mindestens 100 Meter entfernt. Dabei blieb es nicht, in kürzester Zeit entwickelten sich massive Auseinandersetzungen.

Wie klappt eine Eskalation? Wie wird aus einer Anti-NPD-Demo eine Straßenschlacht?

Erstens lässt man sich aktiv und passiv provozieren. In Berlin haben Ausschreitungen bei Demos seit 1967 Tradition. Die Polizei plant sie ein und vermutlich auch der durchgeknallte Teil (es ist nicht einmal die Mehrheit) der Autonomen. Auf der einen Seite stehen und warten die unbeweglichen Marsmenschen in Grün, ausgerüstet mit allem, was einen Straßenkampf erst zu einem solchen macht und auf der anderen Seite unter den Tausenden kleine Gruppen von Kids mit Bierdosen, die auf jede Provokation wie der Pawlowsche Hund reagieren und auch der billigsten Provokation auf den Leim gehen. Gäbe es diese (!) Autonomen nicht, die Polizei müsste sie erfinden! Noch bessere Legitimation für hartes ‘Durchgreifen’ gibt es kaum. Eine Polizeitaktik, die nach der Methode vorgeht ‘Tränengas und Wasserwerfer sind für alle da!’ und ‘Wer friedlich ist, dem passiert auch nichts!’ lässt befürchten, dass sie anderes gar nicht erwartet. Ich hatte an diesem Tag, an diesem Ort Auseinandersetzungen mit der Polizei nicht erwartet, hätte sie entschieden ausgeschlossen. Leide irrte mich.

Wir standen vor der Synagoge, sangen synagogale Gesänge und waren als friedlicher Block mit Rabbinern, Theologen, älteren Menschen problemlos zu erkennen. Ein Rabbiner sprach das Minchagebet (Nachmittagsgebet)

‘Glückselig, die in deinem Haus weilen,
Dich preisen dürfen, immerdar,
Glückselig das Volk, dem solches zuteil ward.
Glückselig das Volk, dessen Gott der Ewige ist.’

‘Es ist Sabbat- und am Sabbat wollen wir nichts Anderes als Ruhe zum Gebet’, hatte Meir Piotrkowski, Sicherheitsbeauftragter der Jüd. Gemeinde verlautbart. (Berliner Zeitung v. 3.12.01)

Diese Ruhe war nur kurz, der Gottesfrieden wurde entweiht.

Ich unterhielt mich mit einer älteren Dame aus der Gemeinde, als wir ein Zischen näherkommen hörten. Unmittelbar neben uns, inmitten der friedlich dastehenden Menschen, schlugen Tränengasgranaten ein. Eine Granate ist vielleicht 50 Zentimeter neben mir gelandet, deswegen weiß ich seitdem, wie Tränengas wirkt.

Gewalttäter, denen wir ‘Schutz und Deckung bieten’ konnten (wie es später in einer Pressemitteilung der Polizeigewerkschaft hieß), gab es nicht in unserer Nähe. Die Auseinandersetzungen spielten sich weiter entfernt ab. Da mehrere Geschosse eingeschlagen sind, muss es mindestens mehrere ‘nervöse Beamte’ gegeben haben. Mir fiel ein Lied ein, in dem es hieß:

‘Wir brauchen nicht euer Tränengas, wir haben auch so Grund genug zum Weinen.’ Um uns herum überschlugen sich die Ereignisse und Menschen machten ihrem Erschrecken Luft. Einige Schlaglichter aus meinem Erleben: ‘Mein Gott, sie schießen auf uns!’ – ‘Runter, hinsetzen, Kopf einziehen, Hände hoch!!’

Was man nicht vermitteln kann, ist das j’mmerliche Gefühl der Angst, das jemand wie ich mit 49 Jahren empfindet, wenn bei 3¡ der Wasserwerferstrahl trifft; die Augen vom Gas tränen und man nur noch die Hoffnung hat, dass der geschwungene Polizeiknüppel nicht den kaputten Rücken trifft. Und dies waren uniformierte Polizisten, nicht der schwarze Block.

Ich saß auf der Straße und hatte wie viele um mich herum die Hände hoch, noch deutlicher kann man friedliches Verhalten nicht ausdrücken. Nach dem 1.12. sind in der Berliner und überregionalen Presse über diese Phase genug Photos erschienen, die dies belegen. Neben mir wurden Leute gegriffen und weggetragen. (Die Frankfurter allgemeine Zeitung, die immer auf ihre Seriosität bedacht ist, schrieb hierzu: ‘Auch einige Juden mit Kippa hakten sich unter und stellten sich dem Wasserwerfer entgegen; sie mussten von der Polizei zur Seite gebeten werden’ FAZ, 2.12.01).Gebeten wurde niemand! Gebetet haben wir allerdings!

(Was in diesen Minuten geschah, wie jüdische Menschen diese Phase erlebten und durchlitten hat der Journalist Christian Bommarius, der vor Ort war, am Montag dem 3.12. auf S.3 der ‘Berliner Zeitung’ wahrheitsgetreu beschrieben. Der Artikel ‘Sabbat in Berlin’ ist zu lang, um ihn abzudrucken, aber er ist sehr wichtig. Er kann von www.berlinonline.de aus dem Archiv der Zeitung geladen werden. )

Unbeirrt räumte die Polizei mit den bei Antifa-Demonstrationen üblichen Mitteln die Straße. Der Räumpanzer fuhr durch die Menge, der Wasserwerfer schoss in die Menge, Polizeiketten jagten Demonstranten und Passanten. Als ich dachte, dass ich jetzt an die Reihe käme, war Schluss. Offensichtlich hatte ein Polizei-Verantwortlicher gemerkt, dass man gerade dabei war das Rabbinat anzugreifen. Immerhin saßen 11 von 21 Repräsentanten der jüd. Gemeinde und mehrere Rabbiner auf der Straße. Nur dadurch wurde unserer Gruppe der Einsatz von Schlagstöcken ‘erspart’. Statt dessen fanden wir uns, vom Wasserwerfer nass gespritzt, lediglich in einem Polizeikessel wieder.

Einige Reaktionen von Leuten um mich herum, an die ich mich erinnere:

‘Oh god, it’s a shame for the city of Berlin, it’s a shame for Germany!’

‘Wir stehen hier unversehrt und reden. Das ist schön.’

Gegen 14 Uhr beruhigte sich die Situation auf der Oranienburger Straße. Das lag an zwei Personen. Gregor Gysi, PDS-MdB und Christian Ströbele, Grüne-MdB, verhandelten mit der Polizeiführung, woraufhin diese den Ausgang der Oranienburgerstraße öffnete, so dass dem größten Teil der Demonstration der Weg in die Auguststraße gelang, wo eine Abschlusskundgebung stattfand. Andere begleiteten, durch großräumige Absperrungen auf Abstand gehalten, die NPD bis zum Nordbahnhof, wo die Nazis von der Polizei in die S-Bahn gesetzt wurde. Am nächsten Tag konnte man dann erfahren, dass der Innensenator schon vor Wochen mit der NPD eine geänderte Demo-Route ausgehandelt hatte. Sie sollte nicht durch das Scheunenviertel und an der Synagoge vorbeiziehen, sondern nur ein kurzes Stück vom Bahnhof Friedrichstraße bis zum Nordbahnhof gehen. SPD-Innensenator Körting hatte diese Route geheim gehalten. Dieser Skandal war in den darauf folgenden Tagen in dieser Form nur wenigen Zeitungen zu entnehmen, obwohl die Fakten für alle sichtbar‘auf der Straße lagen’.

Ein Tag ’ viele Wahrnehmungen einer Realität

Dieser Tag hat in Berlin vieles verändert. In der‘Berliner Zeitung’ v. 3.12.01 wurde die Bedeutung dieses Tages für die Jüdische Gemeinde erfasst. Dort wurde Katja Gerson von der Jüd. Gemeinde mit den Worten zitiert:‘Wäre ich jünger, dann würde ich nach dem heutigen Tag Deutschland verlassen.’

Ich hoffe, dass dies nur ein Ausnahmefall ist. Denn wir brauchen in Deutschland jede Antifaschistin und jeden Antifaschisten, denn auf den Staat kann man immer weniger bauen. Denn das geh’rt zu den Lehren, die sich aus dieser Demonstration ziehen lassen.

Zum einen hat sich hier die Doppelbödigkeit des staatlichen Antifaschismus gezeigt. Dass die antifaschistischen Gruppen, die sich nicht am‘Aufstand der Anständigen’ beteiligen, Polizeiprovokationen kennen und fast schon gewöhnt sind, ist nichts Neues. Dass allerdings die bürgerliche Mitte und diejenigen, die sonst bei Lichterketten und Mahnwachen erscheinen, mittels Räumpanzer und Tränengas bearbeitet werden und die Polizei eine Demonstration auflöst, zu der im Grunde vom Senat aufgerufen wurde, das ist neu. Der staatliche Antifaschismus hat damit eine neue Qualität erreicht.

Eine andere Qualität wurde leider nicht erreicht. Es mögen maximal 6-7.000 Menschen gewesen sein, die gegen den NPD-Aufmarsch demonstriert haben. Und das ist bei einer so großen Zahl von aufrufenden Personen und Gruppen für eine 4-Millionenstadt eine erbärmlich geringe Zahl. Die Antifa-Gruppen waren da, andere Gruppen gar nicht oder minimal.

Wo waren die vielen Tausende von ‘Anständigen’ aus dem christlich-jüdischen Dialog, den Parteien und Verbänden, den Gewerkschaften und anderen Organisationen?

Über die Motive des Polizeieinsatzes kann nur spekuliert werden. Klar ist allerdings, dass dies nicht im Sinne des SPD-geführten Senats sein kann, sondern die Polizeiführung am 1. Dezember auf eigene Rechnung gearbeitet hat.

Der Skandal vom 1. Dezember fand jedoch nur zum Teil seinen Niederschlag in der Presse und in den Nachrichten. In den ZDF-Nachrichten wurden Bilder, auf denen ein evangelischer Pfarrer von Polizisten auf dem Boden geschleift wird, mit der Meldung, dass Antifas die Auseinandersetzung mit der Polizei suchten, kommentiert.

Der 1. 12.: ein Lehrstück über die Berliner Medienlandschaft:

Der gutbürgerliche Tagesspiegel forderte am 2. 12. in einem Kommentar die Bürger auf, künftig bei NPD-Demos zu Hause zu bleiben und die Nazis einsam und allein demonstrieren zu lassen. Die Presse aus dem Hause Springer berichtete nur über Chaoten und Brandstiftungen. Nur taz, Berliner Zeitung und das Neue Deutschland berichteten über die tatsächlichen Ereignisse. Aber auch so gab es noch einige Nachspiele.

Wer war verantwortlich und wer muss sich bei wem entschuldigen?

Der DGB kritisierte den Polizeieinsatz. Die jüdische Gemeinde forderte Konsequenzen und eine Entschuldigung der Regierenden. Daraufhin entschuldigte sich der Innensenator bei der jüdischen Gemeinde, allerdings ausschliesslich für die Nicht-Information über die geänderte Demo-Route der NPD. Zu den Übergriffen der Polizei gab es keine Entschuldigung. Die Krone setzte dem der Landesvorsitzende der Polizeigewerkschaft auf, als er verlangte, dass sich die jüdische Gemeinde bei der Polizei entschuldigt. Er nannte mit Annetta Kahane von der jüdischen Gemeinde ausgerechnet eine Person, die sich seit Jahren in antirassistischer und demokratischer Jugendarbeit exponiert und die bundesweit bekannte Antonio-Amadeu-Stiftung organisiert.

Ich habe ihm daraufhin einen Brief geschrieben, aus dem ich einige Teile zitieren müchte:

‘Lieber Kollege ....,
ich wähle das unter Gewerkschaftern übliche kollegiale Du. Ich bin Mitglied im Landesfachbereichsvorstand Gesundheit von ver.di Berlin-Brandenburg, Vorsitzender der Fachgruppe der kirchlichen Beschäftigten und habe darüber hinaus weitere Funktionen auf Bezirks- und Bundesebene. Du bist mir von DGB-Kongressen her bekannt, so dass ich aufmerksam am 5.12. die Meldungen »Polizisten wollen Entschuldigung« (Berl. Zeitung vom 5.12.) und »Hat einen Schimmer« in der taz vom selben Tag zur Kenntnis nahm. Ich hatte die Vermutung, dass die GdP-Stellungnahme verkürzt dargestellt wurde und las deswegen die komplette Pressemitteilung »Einhaltung und Anwendung von Gesetzen«, die mit Datum vom 4.12.von der GdP-Pressestelle ins Netz gestellt wurde.

Als ich den kompletten Text gelesen hatte, musste ich erst einmal schlucken. Es ging vor allem um den 2. Teil, wo es zum Versammlungsrecht heißt: »Es gibt aber auch einigen Mitgliedern der jüdischen Gemeinde nicht das Recht, sich mit Steinewerfern und anderen Straftätern zu verbünden oder diesen Schutz zu gewähren. Auch hat kein Demonstrant das Recht für sich zu entscheiden, wann und wo die Polizei strafbare Handlungen unterbindet und Straftäter festnimmt.Ü Dann wirst Du als Person zitiert: »Sie (die Polizistinnen und Polizisten, U.P.) haben auch kein Verständnis für Demonstranten, die ihre Arbeit unnötig erschweren und Straftätern Schutz und Deckung bieten.« Der Text endet dann mit der Aufforderung an die jüdische Gemeinde, sich bei den »betroffenen Kolleginnen und Kollegen« zu entschuldigen.

Lieber Kollege... ich weiß nicht, wo Du am 1. Dezember gewesen bist und wer Dich über den Verlauf der Ereignisse in der Oranienburger Straße unterrichtet hat. Ich war an diesem Tag vor der Synagoge und einer derjenigen, die nach der Sabbatfeier in den Polizeieinsatz gerieten. Wenn ich die Pressemitteilung der GdP richtig verstehe, kann ich an diesem Tag unmöglich auf der gleichen Veranstaltung gewesen sein...

Hätte es auch nur irgendeinen Anhaltspunkt gegeben, dass wir der Polizei die »Arbeit unnötig erschweren und Straftätern Schutz und Deckung bieten«, wären wir wohl nicht danach unbehelligt geblieben, als wir inmitten der von Ordnungskräften um uns herum aufgestellten Absperrgitter waren. Dass die Polizeitaktik in weiten Teilen der Presse als »Desaster« empfunden wurde, dass die Bilder unserer Gruppe im Polizeieinsatz am Boden sitzend/kniend durch die internationalen Medien ging und weiter geht, ist wahrlich nicht die Erfindung der jüdischen Gemeinde im allgemeinen und von Anneta Kahane im besonderen. Hätte sich sonst der Innensenator entschuldigt? Was sich an diesem Tag vor der Synagoge seitens der Polizei abgespielt hat, war katastrophal, nicht angemessen und nicht zu akzeptieren. Dies ist auch nicht mit den Steinewerfern und PKW-Zerstörern unter den Autonomen gegenzurechnen. Ein Unrecht legitimiert nicht ein weiteres.

Lieber Kollege..., ich kann nachvollziehen, dass Du Dich vor die organisierten Polizeikolleginnen und -kollegen stellen willst. Dies ist im Prinzip ehrenwert. Aber dass Du dann Annette Kahane und die jüdische Gemeinde aufforderst, sie mögen sich bei den »betroffenen Kolleginnen und Kollegen« entschuldigen, ist für mich nicht mehr nachzuvollziehen. Damit kehrst du die Situation um. Du mutest damit aktiven Demokraten zu, Unrecht nicht mehr als solches zu benennen, Übergriffe nicht mehr zu kritisieren und die Obrigkeit wie früher machen zu lassen, was auch immer sie tut. Noch einmal zu Äußerungen von Dir in der taz: Auch ich habe wie Anneta Kahane »keinen blassen Schimmer von Polizeiarbeit«. Dagegen weiß ich ziemlich genau, woran die Weimarer Republik zu Grunde gegangen ist – daran, dass es zuwenig Demokraten und zuviel Angepasste gab.’

Ulrich Peter, 10.12.2001

1  Hierzu das entsprechende Kapitel in Ulrich Peter, Der Bund der religiösen Sozialisten in Berlin von 1919 bis 1933. Frankfurt 1994.