Gesellschaftsvertrag und Reich Gottes

Zur Reich-Gottes-Verträglichkeit
gesellschaftlicher Leitvorstellungen




1. Gesellschaft vor dem Umbau

Die Globalisierung der Wirtschaft mit einer tendentiell universalen und totalen Herrschaft neoliberal-deregulierter Marktmechanismen im Dienst der Kapitalanhäufung hat wirtschaftlich, sozial-politisch und kulturell-ideologisch zu solch grundlegenden Veränderungen geführt, dass der nationale Konsens bedroht erscheint und die Debatte um einen neuen Gesellschaftsvertrag eröffnet worden ist. Vor diesem Hintergrund soll nach Kriterien für einen neuen Gesellschaftsvertrag gefragt werden, die sich an jener Vision erfüllten Lebens aller Menschen orientieren, die mit dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit verbunden ist. Ausgehend von der zentralen Stellung, inhaltlichen Fülle, komplexen Struktur und differenzierten Hermeneutik des Reiches Gottes werden thesenartig Elemente einer Reich-Gottes-Verträglichkeitsprüfung gesellschaftlicher Leitvorstellungen formuliert.

2. Das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit für die Erde

2.1. Zentraler Status
Nach dem Zeugnis der synoptischen Evangelien war das Reich Gottes bzw. das Reich der Himmel das zentrale Anliegen Jesu. Zu Beginn seines öffentlichen Auftretens sagte er: "Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium" (Mk 1,14f.)! In der Bergpredigt forderte er die Seinen auf: "Euch aber muss es zuerst um sein [Gottes, U.E.] Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben" (Mt 6,33). Die zentrale Bitte im Unser Vater Unser lautet: "Dein Reich komme" (Lk 11,2). Das Reich Gottes verglich Jesus mit einem verborgenen Schatz (vgl. Mt 13,44) und einer kostbaren Perle (vgl. Mt 13,45). Das Reich Gottes bzw. der Himmel ist also nicht bloss ein Thema unter vielen andern und keine regional beschränkte, sondern eine alles bestimmende Kategorie. Leonhard Ragaz hat es so gesagt: "Die Bibel hat vom Anfang bis zum Ende nur einen Inhalt: die Botschaft vom lebendigen Gott und dem Reich seiner Gerechtigkeit für die Erde."

2.2. Inhaltliche Fülle
Das Reich Gottes umfasst eine grosse inhaltliche Fülle. Im Laufe der Geschichte wurde es über weite Strecken entweder durch eine individualistische Privatisierung, vermeintlich unpolitische Spiritualisierung und ideologische Verjenseitigung verkürzt oder zur Begründung politischer oder kirchlicher Herrschaftsansprüche bzw. zur Rechtfertigung revolutionärer Gewalt missbraucht.

Option für Benachteiligte

Zu Beginn seines öffentlichen Auftretens in der Synagoge von Nazaret werden die zentralen Anliegen Jesu programmatisch zusammengefasst, wenn er auf sich bezieht, was er aus dem Buch des Propheten Jesaja vorgelesen hat: "Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit entlasse und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe" (Lk 4,18f.). Jesus stand also auf der Seite der Armen, Gefangenen und Blinden und war kein Komplize der Reichen, Mächtigen und religiös/ideologisch Führenden. Bezogen auf die damit angesprochenen gesellschaftlichen Instanzen Ökonomie, Politik und Kultur/Religion/Ideologie sollen exemplarisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit Jesu Praxis, Verkündigung und Verständnis des Reiches Gottes genauer bestimmt werden.

Wirtschaftlich

Die bevorzugten Adressaten des Reiches Gottes sind die Armen (vgl. Mt 5,3 par.), wogegen die Reichen von ihm ausgeschlossen bleiben (vgl. Mt 19,23f. par.). Diese Armen sind nicht bloss bedürftig, sondern bettelarm, also Angehörige der untersten Unterschicht. Jesus lebte seine Solidarität mit den Armen u.a. in seiner mehrfach bezeugten Praxis, zum Teilen von Brot und Fisch anzuleiten, damit alle satt wurden (vgl. Mt 14,13-21 par.). Er wollte die Verteilung der lebensnotwendigen Güter nicht mit Geld organisieren, sondern durch Teilen erreichen (vgl. Mk 6,36f. par.). Mit den Gleichnissen vom Kornbauern und den Raben und Lilien (vgl. Lk 12, 16-31) plädierte er gegen eine Ökonomie der Bereicherung für eine Ökonomie der Gerechtigkeit, die sich an der universalen Sorge Gottes für ein Leben aller Geschöpfe in Würde orientiert und mit dem Trachten nach dem Reich Gottes verbunden ist (vgl. Lk 12,31).

Politisch

In der Tischgemeinschaft mit verachteten Zöllnern und Sündern (vgl. Mt 9,10f. par.) durchbrach Jesus gesellschaftliche Schranken. Den Hohepriestern und Ältesten erklärte er, Zöllner und Dirnen kämen eher ins Reich Gottes als sie (vgl. Mt 21.31). Die Pharisäer (und z.T. die Schriftgelehrten) warfen ihm die Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern vor und beschimpften ihn als Fresser und Weinsäufer und Freund der Zöllner und Sünder (vgl. Lk 7,34 par.) und seine Verwandten erklärten, er sei von Sinnen (vgl. Mk 3,21). Das Reich Gottes beinhaltete für Jesus eine kritische Sicht der Familie: "Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen Gottes erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter" (Mk 3,33-35 par.). Für ihn haben die Kinder Zugang zum Reich Gottes (vgl. Mk 10,13-16), und gegenüber Frauen war er souverän frei (vgl. Joh 4,1-26). Öfters überwand er selbst am Sabbat die soziale Isolierung von Kranken, Aussätzigen und Besessenen (vgl. Mk 1,30f.40-44 par.).

Kulturell/religiös/ideologisch

Jesus durchbrach im Kontakt mit Aussätzigen die Grenzziehung zwischen rein und unrein (vgl. Lk 17,11-19). Ausdrücklich stellte er einen Zusammenhang her zwischen der Befreiung von Dämonen und dem Reich Gottes: "Wenn ich aber die Dämonen durch den Geist Gottes austreibe, dann ist das Reich Gottes schon zu euch gekommen" (Mk 12,28 par.). Jesu Kampf mit den religiös führenden Leuten war letztlich ein Kampf um Gott und darum, welche Praxis mit dem Glauben an welchen Gott verbunden ist. In der Geschichte von der Heilung des Gelähmten (vgl. Mk 2,1-12) standen sich der die Verhältnisse sanktionierende Gott der Schriftgelehrten und der heilend-befreiende Gott Jesu unversöhnlich gegenüber.

Fundamentale Systemkritik

Entscheidend wichtig für Jesu Verständnis des Reiches Gottes ist seine Kritik ungerechter Strukturen. Er war nicht nur für einzelne Menschen am Rande da, sondern griff auch jene Verhältnisse an, die zu wirtschaftlicher Benachteiligung, politischer Beherrschung und kulturell/religiös/ideologischer Bevormundung führten. Dies zeigt sein Angriff auf den Tempel als dem wirtschaftlichen, politischen und religiösen Zentrum der Gesellschaft Palästinas (vgl. Mk 11,15-19 par.; Joh 2,13-16). Indem er die Käufer und Händler vertrieb, unterband er das Geschäft der vom Tempel konzessionierten Händler; indem er die Tische der Geldwechsler umstiess, verunmöglichte er die Ausbeutung der Leute, wenn diese die für die Abgabe der Tempelsteuer notwendigen tyrischen Silberhalbschekel nicht mehr bei der Tempelbank zu einem von dieser festgelegten Kurs erwerben konnten; indem er die Taubenhändler vertrieb, wurden die Opfer der armen Leute verunmöglicht; schliesslich entzog Jesus dem Tempel die göttliche und damit jegliche Legitimation, wenn er erklärte, der Tempel sei kein Haus des Gebets mehr, sondern zu einer Räuberhöhle verkommen (vgl. Mk 11,17).

Das Fest für alle als subversives Bild für das Reich Gottes

Das wohl dichteste Bild für das Reich Gottes ist jenes vom Hochzeits- (vgl. Mt 22,1-10) bzw. Festmahl (vgl. Lk 14,15-24). Dieses veranschaulicht, was Jesus meinte, wenn er das Reich Gottes als Umkehr der Verhältnisse begriff, weil darin Letzte Erste und Erste Letzte sind (vgl. Lk 13,29 par.). Zu einem Fest gehört, dass für alle genug zu essen und zu trinken da ist. Für ein Fest ist wichtig, dass alle Platz haben und niemand ausgeschlossen wird. Und schliesslich ist ein Fest, das mehr ist als blosse Erholung vom grauen Alltag, die Feier eines guten Lebens für alle Menschen. Dies im Sinne Jesu, der gekommen ist, dass alle das Leben und dieses in Fülle haben (vgl. Joh 10,10). Die Gleichnisse des Hochzeits- bzw. Festmahles für das Reich Gottes können "...als Muster zum rechten Verständnis aller seiner [Jesu, U.E.] Aussagen über das Königreich Gottes dienen" . Die Gäste, die der Herr zu rufen befiehlt, sind bei Lukas "Arme, Krüppel, Blinde und Lahme" sowie sonstige von der Landstrasse (Lk 14,21.23) und bei Matthäus "Böse und Gute" (Mt 22,10) in dieser Reihenfolge - Böse und Gute. "Man vergegenwärtige sich ... eine auf diese Weise zusammengebrachte Tischgemeinschaft, wie da in wahrlich bunter Reihe Männer und Frauen, Arme und Reiche, Sklaven und Freie miteinander und durcheinander zu Tisch liegen, Pharisäer zwischen Zöllnern und Sündern." In der kulturübergreifenden Sozialanthropologie wird diese Art von Tischgemeinschaft als "offene Kommensalität" bezeichnet. "Was Jesu Gleichnis vorstellt und in Aussicht stellt, ist ... eine offene Kommensalität, ein gemeinsames Mahl, bei dem die Tischordnung nicht im Kleinen die grosse Gesellschaftsordnung mit ihren vertikalen Diskriminierungen und lateralen Trennungen widerspiegelt. Die soziale Herausforderung ist das eigentlich Bedrohliche dieses Gleichnisses... Das Reich Gottes als ein Prozess offener Kommensalität ... negierte die Grundlagen der antiken meditterranen Gesellschaft, in der Begriffe wie Ehre und Schande absolute Geltung hatten."

2.3. Komplexe Struktur
Das Reich Gottes hat eine komplexe Struktur und umfasst zumindest fünf Spannungsfelder, deren Pole weder bloss dual nebeneinander noch dualistisch gegeneinander stehen, sondern einander dialektisch zugeordnet sind und gleichradikal betont werden müssen.

Gabe Gottes und Verpflichtende Aufgabe

Das Reich Gottes ist radikales Geschenke Gottes, das die Glaubenden aber ebenso radikal in Pflicht nimmt. Es ist "... nach der Bibel insofern ganz Gottes Werk, als es ganz von ihm kommt, als der Mensch es nie und nimmer machen könnte, mit aller Kunst und aller Macht, als er dazu nicht nagelsgross beitragen könnte, als er höchstens Babeltürme bauen könnte, wenn es nicht von Gott her käme. Das ist die eine Hälfte der Wahrheit ... aber die andere ist: Das Reich Gottes käme doch nicht, wenn nicht der Mensch es annähme und sich ihm zur Verfügung stellte." Das Reich Gottes ruft als Gabe Gottes in die Nachfolge Jesu, befreit aber vom Zwang, das totum und ultimum der Geschichte selbst herstellen zu müssen.

Nicht von dieser Welt, aber in ihr und für sie

Für Jesus ist sein Reich nicht von dieser Welt (vgl. Joh 18,36). Es ist weder die religiöse Verklärung der Welt noch total von ihr getrennt. In seiner heilend-befreiende Praxis hat Jesus deutlich gemacht, dass das Reich Gottes in der Welt Gestalt annehmen und wie der Sauerteig das Mehl durchwirken oder wie das Senfkraut alles durchwuchern soll. Die zentrale Bitte im Unser Vater Unser lautet: Dein Reich komme. "Sein Reich soll kommen: zu uns, auf die Erde, nicht wir zu seinem Reich in einem fernen Jenseits und nicht erst nach dem 'jüngsten Gericht' nach der 'Auferstehung der Toten', sondern auch schon jetzt. Sein Wille soll auf Erden geschehen, nicht im Himmel, wo er schon erfüllt ist, aber er soll auf Erden so vollkommen geschehen wie im Himmel. Nicht soll die Erde in den Himmel hinaufgezogen werden, sondern der Himmel auf die Erde herab." Das Reich Gottes ist zwar nicht von dieser Welt, seine Gerechtigkeit gilt aber dieser Welt und soll in ihr Gestalt annehmen.

Persönlich-existentiell und politisch-strukturell

Jesus hat das Reich Gottes wohl als Einsatz für einzelne kranke, materiell benachteiligte, sozial ausgegrenzte, von Dämonen besessene und religiös geächtete Menschen gelebt. Zugleich aber hat er die Verhältnisse kritisiert und deren Repräsentanten angegriffen, die die strukturellen Voraussetzung dafür darstellten bzw. sanktionierten, dass das Leben von Menschen beschädigt wurde. Das Reich Gottes umfasst sowohl die persönlich-existentielle Ebene, indem es zu persönlicher Umkehr und Solidarität mit Benachteiligten einlädt, als auch die politisch-strukturelle Ebene, indem es zum Einsatz für Verhältnisse im Dienst der ganzheitlichen Entfaltung aller Menschen verpflichtet. Weder eine reduktionistische Sorge bloss um einzelne noch die abgehobene Befassung mit Strukturen sind im Sinne des Reiches Gottes. Diesem entspricht vielmehr eine kritische Analyse und befreiende Gestaltung des dialektischen Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, von Subjekt und Struktur.

Symbolisch gefeiert und praktisch bezeugt

Jesus hat sowohl in Gleichnissen vom Reich Gottes gesprochen als auch dieses in seinem Leben konkret bezeugt. Solange wir auf die verheissene Vollendung des Reiches Gottes hin unterwegs sind, muss in religiöser Rede und liturgischer Feier an das in Jesus angekommene Reich Gottes erinnert bzw. seine Vollendung symbolisch vorweggenommen werden. Religiöse Rede und liturgische Feier sollen Orientierung und Ermutigung schenken, zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit zu suchen. Das Reich Gottes hat eine religiös-spirituelle Dimension und meint eine innere Haltung im Geiste Jesu. Diese ist soweit echt, als sie mit einer persönlichen, pastoralen und politischen Glaubenspraxis in der Nachfolge Jesu verbunden ist.

Angebrochen gegenwärtig und zukünftig verheissen

Das Reich Gottes ist in Jesus bereits angebrochen und nahegekommen. Es ist überall fragmentarisch gegenwärtig, wo im Geiste Jesu gehandelt wird; denn was ihr dem Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan (vgl. Mt 25,40). Die Vollendung des Reiches Gottes steht aber als verheissene Tat Gottes noch aus. Es muss an beidem zugleich festgehalten werden. Daran, dass das Reich Gottes fragmentarisch gegenwärtig ist und daran, dass es den eschatologisch-utopische Horizont allen Bemühens darstellt. Zum Wesen des Horizontes gehört aber, dass er prinzipiell unerreichbar ist. Zu dem, was für uns prinzipiell unerreichbar ist, sind wir unendlich weit entfernt. Wovon wir unendlich weit entfernt sind, sind wir immer gleich weit entfernt, nämlich unendlich weit. Die Differenz zwischen den gegenwärtigen Verhältnissen und dem Reich Gottes ist deshalb keine quantitative, die Schritt für Schritt vermindert und einmal ganz aufgehoben werden könnte. Sie ist vielmehr eine qualitative. Deshalb geht es nicht um die quantitative Frage, wie nahe oder wie fern wir dem Reich Gottes sind. Sondern es geht um die qualitative Frage, ob die gesellschaftlichen Strukturen und Praktiken mit dem Reich Gottes prinzipiell vereinbar sind oder nicht. Das Reich Gottes ist keine noch ausstehende, statische Utopie, die in einem unendlichen Fortschreiten angestrebt, einmal voll realisiert werden könnte. Es ist kein durch die Realisierung eines historischen Projekts (Marktwirtschaft, Planwirtschaft usw.) wirklich erreichbares Ziel. Die Identifizierung des Reiches Gottes mit einem historischen Projekt stellt eine utopistische Antiutopie dar. Von keiner historischen Tat oder Aktion dürfen wir sagen, mit ihr sei das Reich Gottes gegenwärtig. Wo solches trotzdem geschieht, hat dies eine triumphalistische Mystifizierung irdischer Verhältnissse zur Folge, wodurch der eschatologische Vorbehalt negiert und das Bestehende sakralisiert wird.

2.4. Differenzierte Hermeneutik
Um eine fundamentalistisch verkürzte Berufung auf das Reich Gottes zu vermeiden, bedarf es eines differenzierten Verständnisses seines Status und seines Inhalts. Dazu ist das "alternative" Modell der Korrespondenz von Relationen hilfreich, wie es Clodovis Boff vorgeschlagen hat. Danach entsprechen sich der biblische Text und unsere Situation nicht direkt, sondern so, dass sich die biblischen Texte bezogen auf ihren historischen Kontext auf der einen und unsere Antwort und Praxis bezogen auf unseren Kontext in Analogie zum Verhältnis der biblischen Texte zu ihrem Kontext auf der andern Seite gegenüberstehen. Es geht also um eine Korrespondenz von Relationen: Schrift : Ihr Kontext = Wir (Praxis und Antwort) : Unser Kontext. In diesem Sinne "... darf man denn auch von der Heiligen Schrift keine Formeln zum 'Kopieren' oder Techniken zur 'Anwendung' erwarten. Was sie uns anbieten kann, sind Orientierungen, Modelle, Typen, Richtlinien, Prinzipien, Eingebungen, kurz Elemente, mit deren Hilfe wir uns selbst eine 'hermeneutische Kompetenz' erwerben können, weil sie uns die Möglichkeit geben, für uns selbst 'im Sinne Christi' oder 'im Einklang mit dem Hl. Geist' die neuen und unvorhergesehenen Situationen zu beurteilen, mit denen wir heute ständig konfrontiert werden. Die christlichen Schriften geben uns kein was, sondern ein wie: eine Art, einen Stil, einen Geist".

Für das Verständnis des Reiches Gottes heisst dies, dass sich unsere Praxis im Sinne des Reiches Gottes in Analogie zu dem realisieren müsste, wie es Jesus bezogen auf die Gesellschaftsformation Palästinas bezeugt hat. Der Inhalt des Reiches Gottes steht also nicht abschliessend fest. Das gilt etwa für die ökologische Problematik, die damals nicht in unserem heutigen Sinne virulent war. Es gilt auch für die Beurteilung der Situation der Frauen, für die es in den biblischen Schriften nur am Rande und nicht zentral Anhaltspunkte für eine befreiende Praxis gibt.

3. Elemente einer Reich-Gottes-Verträglichkeitsprüfung
gesellschaftlicher Leitvorstellungen


3.1. Option für das Leben
Der fundamentalste Gegensatz ist jener von Leben und Tod. Das Reich Gottes ist ein Reich des Lebens. Jesus hat es als Befreiung von allem, was das Leben beschädigt oder zerstört, bezeugt und als Vision wahren, heilen und erfüllten Lebens für alle Menschen auf der Erde und vor dem Tod verkündet. Er will deshalb, dass alle das Leben und dieses in Fülle haben (vgl. Joh 10,10). Die Reich-Gottes-Verträglichkeit ist unabdingbar gebunden an die Option für das Leben. Diese Option schliesst die Natur ein, denn menschliches Leben ist nur möglich in einer Gesellschaft, in der die Natur Platz hat. Die Option für das Leben meint im Sinne der Gerichtsrede (vgl. Mt 25,34-40) jene elementare Liebe, die allen Menschen das an materiellen Gütern, menschlicher Zuwendung und kulturell-religiöser Sinngebung zukommen lässt, was sie zu einem Leben in Würde und Fülle benötigen. Das Kriterium, die Grundbedürfnisse aller zu befriedigen, gilt universal und ist absolut. Es impliziert die universale Bestimmung aller Güter. Danach ist das Recht auf Privateigentum dem Recht auf Leben so untergeordnet, dass es kein Recht auf Privateigentum gibt, solange noch ein Mensch leidet oder stirbt, weil ihm die Befriedigung der Grundbedürfnisse verweigert wird.

Eine Gesellschaft ist so weit Reich-Gottes-verträglich, als sie sich von der Option für ein Leben in Fülle und Würde aller Menschen leiten lässt.

3.2. Eine Gesellschaft und Welt, in der alle Platz haben
Der Option für ein Leben in Fülle aller Menschen entspricht das Projekt einer Gesellschaft und Welt, in der alle Platz haben und niemand ausgeschlossen wird. Dies gemäss der Vision Jesu, der das Reich Gottes mit einem Fest verglichen hat, zu dem im Sinne der offenen Kommensalität alle geladen und auf dem alle Schranken aufgehoben sind. Das Reich Gottes meint im Sinne Jesu die universal-solidarische Gemeinschaft von Menschen, in der sich alle gegenseitig als materiell, sozial und kulturell-religiöse bedürftige Subjekte anerkennen. Ein solches Projekt stellt "...ein universales Kriterium der Relativierung von Gesellschaftsprinzipien (dar), die allgemeine Gültigkeit verlangen. Dieses universale Kriterium impliziert nicht die Behauptung, zu wissen, was die beste Form ist, in der die Menschen zu leben haben. Ganz gleich, welche Vorstellungen sie über ein gutes Leben haben, unterliegen sie doch dem Kriterium, dass das gute Leben des einen nicht die Unmöglichkeit zu leben des anderen implizieren darf".

Eine Gesellschaft ist so weit Reich-Gottes-verträglich, als sie dem Projekt verpflichtet ist, dass alle Platz haben und niemand ausgeschlossen wird.


3.3. Gleichberechtigung der Frauen
Die Frauen sind in mehrfacher Hinsicht wirtschaftlich, politisch und kulturell benachteiligt. Die Männer kontrollieren weltweit 90% des in Geld gemessenen Einkommens und 99% des in Geld gemessenen Vermögens. Verglichen mit den Männern wird die Erwerbsarbeit der Frauen schlechter entlöhnt. Manche sind deswegen bei voller Erwerbstätigkeit arm (working poors). Frauen verlieren aufgrund prekärer Arbeitsverhältnisse eher ihre Stelle und geraten schneller in die Armut. Zudem werden ihre reproduktive Arbeit in der Familie und ihr Beitrag zum Gemeinwohl durch soziale und kulturelle Dienstleistungen kaum oder gar nicht entgolten.

Eine Gesellschaft ist so weit Reich-Gottes-verträglich, als in ihr die Frauen weder ökonomisch noch politisch oder kulturell benachteiligt werden, sondern die gleichen Rechte und Chancen haben wie die Männer.

3.4. Verzicht auf Utopisierung universaler Gesellschaftsprinzipien
Das Projekt einer Gesellschaft und Welt, in der alle Platz haben, beinhaltet den Verzicht auf universale Gesellschaftsprinzipien etwa im Sinne einer antiutopischen Utopisierung des totalen Marktes oder eines historischen Sozialismus, weil "der Ausschluss von Teilen der Gesellschaft ... im Wesen von universalen Gesellschaftsprinizpien (liegt), sofern sie totalisiert werden". Dieser Verzicht folgt aus dem gegenüber allen historischen Projekten anzumeldenden produktiv-kritischen eschatologischen Vorbehalt, der sich aufgrund des Reiches Gottes als des qualitativ und zeitlich letzten eschatologisch-utopischen Horizonts weigert, vor der als Tat Gottes verheissenen Fülle der Zeiten das Ende der Geschichte zu proklamieren und so die bestehenden Verhältnisse zu sanktionieren.

Eine Gesellschaft ist so weit Reich-Gottes-verträglich, als sie ihr historisches Projekt nicht in idolatrischer Weise mit dem Ganzen (dem totum) und dem Letzten (dem ultimum) identifiziert.

3.5. Primat der Politik gegen Berufung auf Sachzwänge
Angesichts der ökologisch und sozial zerstörerischen Folgen neoliberaler Deregulierungen im Namen eines utopisierten totalen Marktes muss eine Gesellschaft wieder bereit sein, Verantwortung für die herrschenden Verhältnisse und die damit verbundenen Praktiken zu übernehmen. Diese sind nicht naturgegeben, sondern historisch geworden. Deshalb darf die Verantwortung für sie nicht in einem götzendienerischen Akt perverser Verantwortungslosigkeit an Marktmechanismen abgetreten werden, die angeblich unendlich weise sind. An die Stelle des Primats der Ökonomie gegenüber der Politik muss der Primat der Politik gegenüber der Ökonomie treten.

Eine Gesellschaft ist so weit Reich-Gottes-verträglich, als sie bereit ist, ihre Verhältnisse und Praktiken verantwortlich zu gestalten, statt sich verantwortungslos vermeintlich unabänderlichen Sachzwängen zu unterwerfen.

3.6. Assoziativ-symmetrische Systemdynamik gegen Zwei-Drittel-Gesellschaft
Die drohende Zwei-Drittel-Gesellschaft ist das Produkt einer neoliberalen Deregulierungspolitik tendentiell aller gesellschaftlicher Bereiche im Dienst der Vermehrung der anonymen Grösse Kapital. Gegen die Inklusion-Exklusion-Dynamik müsste eine Reregulierungspolitik verfolgt werden, die sich am Wohl der Schwachen orientiert, deren Integration anstrebt und die Einkommens- und Vermögensumverteilung von unten nach oben rückgängig macht. Die gesellschaftlichen Systemdynamiken ökonomischer, rechtlicher und kultureller Art müssten daraufhin angelegt sein, assoziativ die Menschen miteinander zu verbinden, statt sie dissoziativ voneinander zu trennen. Sie müssten egalitär-symmetrische statt ungleich-asymmetrische Verhältnisse fördern. Sie sollen so verhindern, dass einzelne oder Teile der Bevölkerung ökonomisch abgekoppelt, sozial ausgegrenzt und kulturell geächtet werden.

Eine Gesellschaft ist so weit Reich-Gottes-verträglich, als sie sich nicht einer sozialen Inklusions-Exklusions-Logik unterwirft, sondern die Dynamik der Verhältnisse und Praktiken so reguliert, dass in ihr alle Platz haben und niemand ausgeschlossen wird.

3.7. Sinnvolle Arbeit bzw. Garantiertes Mindesteinkommen für alle
Produktions- und Reproduktionsarbeit sind sowohl objektiv gesellschaftlich notwendig als auch subjektiv für die einzelnen Menschen von grosser Bedeutung. Deshalb sollten alle ein Recht auf sinnvolle Arbeit haben. Damit dies angesichts abnehmender Erwerbs- und eher zunehmender Reproduktionsarbeit möglich ist, muss die traditionelle Aufteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit in entgoltene Produktions- und nicht oder schlecht bezahlte Reproduktions- und Betreuungsarbeit aufgehoben und müssen insgesamt neue Zeitmodelle entwickelt werden. Jene, die aus physischen oder psychischen Gründen nicht oder kaum arbeiten können haben im Sinne der sozialethischen Elementarisierung der religiösen Rede von der Rechtfertigung aus dem Glauben, wonach sich niemand mit Leistungen für die eigene Existenz rechtfertigen muss, Anrecht auf ein Garantiertes Mindesteinkommen. Dieses muss so ausgestaltet und bemessen sein, dass es in einem hohen Mass gesellschaftliche Partizipation und ein Leben in Würde ermöglicht und nicht bloss ein Randdasein minimal finanziell absichert.

Eine Gesellschaft ist so weit Reich-Gottes-verträglich, als sie für alle eine sinnvolle Arbeit bereitstellt bzw. allen ein Mindesteinkommen garantiert, das ein Leben in Würde ermöglicht.

Urs Eigenmann



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